Elfriede Jelinek – Prose

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Auszug von Die Klavierspielerin

(Seite 7–8 und 108–110)

Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt. Die Mutter nennt Erika gern ihren kleinen Wirbelwind, denn das Kind bewegt sich manchmal extrem geschwind. Es trachtet danach, der Mutter zu entkommen. Erika geht auf das Ende der Dreißig zu. Die Mutter könnte, was ihr Alter betrifft, leicht Erikas Großmutter sein. Nach vielen harten Ehejahren erst kam Erika damals auf die Welt. Sofort gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab. Erika trat auf, der Vater ab. Heute ist Erika flink durch Not geworden. Einem Schwarm herbstlicher Blätter gleich, schießt sie durch die Wohnungstür und bemüht sich, in ihr Zimmer zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Doch da steht schon die Mama groß davor und stellt Erika. Zur Rede und an die Wand, Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt. Die Mutter forscht, weshalb Erika erst jetzt, so spät, nach Hause finde? Der letzte Schüler ist bereits vor drei Stunden heimgegangen, von Erika mit Hohn überhäuft. Du glaubst wohl, ich erfahre nicht, wo du gewesen bist, Erika. Ein Kind steht seiner Mutter unaufgefordert Antwort, die ihm jedoch nicht geglaubt wird, weil das Kind gern lügt. Die Mutter wartet noch, aber nur so lange, bis sie eins zwei drei gezählt hat.

Schon bei zwei meldet sich die Tochter mit einer von der Wahrheit stark abweichenden Antwort. Die notenerfüllte Aktentasche wird ihr nun entrissen, und gleich schaut der Mutter die bittere Antwort auf alle Fragen daraus entgegen. Vier Bände Beethovensonaten teilen sich indigniert den kargen Raum mit einem neuen Kleid, dem man ansieht, daß es eben erst gekauft worden ist. Die Mutter wütet sogleich gegen das Gewand. Im Geschäft, vorhin noch, hat das Kleid, durchbohrt von seinem Haken, so verlockend ausgesehen, bunt und geschmeidig, jetzt liegt es als schlaffer Lappen da und wird von den Blicken der Mutter durchbohrt. Das Kleidergeld war für die Sparkasse bestimmt! Jetzt ist es vorzeitig verbraucht. Man hätte dieses Kleid jederzeit in Gestalt eines Eintrags ins Sparbuch der Bausparkassen der österr. Sparkassen vor Augen haben können, scheute man den Weg zum Wäschekasten nicht, wo das Sparbuch hinter einem Stapel Leintücher hervorlugt. Heute hat es aber einen Ausflug gemacht, eine Abhebung wurde getätigt, das Resultat sieht man jetzt: jedesmal müßte Erika dieses Kleid anziehen, wenn man wissen will, wo das schöne Geld verblieben ist. Es schreit die Mutter: Du hast dir damit späteren Lohn verscherzt! Später hätten wir eine neue Wohnung gehabt, doch da du nicht warten konntest, hast du jetzt nur einen Fetzen, der bald unmodern sein wird. Die Mutter will alles später. Nichts will sie sofort. Doch das Kind will sie immer, und sie will immer wissen, wo man das Kind notfalls erreichen kann, wenn der Mama ein Herzinfarkt droht. Die Mutter will in der Zeit sparen, um später genießen zu können. Und da kauft Erika sich ausgerechnet ein Kleid!, beinahe noch vergänglicher als ein Tupfer Mayonnaise auf einem Fischbrötchen. Dieses Kleid wird nicht schon nächstes Jahr, sondern bereits nächsten Monat außerhalb jeglicher Mode stehen. Geld kommt nie aus der Mode.

Es wird eine gemeinsame große Eigentumswohnung angespart. Die Mierwohnung, in der sie jetzt noch hocken, ist bereits so angejahrt, daß man sie nur noch wegwerfen kann. Sie werden sich vorher gemeinsam die Einbauschränke und sogar die Lage der Trennwände aussuchen können, denn es ist ein ganz neues Bausystem, das auf ihre neue Wohnung angewandt wird. Alles wird genau nach persönlichen Angaben ausgeführt werden. Wer zahlt, bestimmt. Die Mutter, die nur eine winzige Rente hat, bestimmt, was Erika bezahlt. In dieser nagelneuen Wohnung, gebaut nach der Methode der Zukunft, wird jeder ein eigenes Reich bekommen, Erika hier, die Mutter dort, beide Reiche säuberlich voneinander getrennt. Doch ein gemeinsames Wohnzimmer wird es geben, wo man sich trifft. Wenn man will. Doch Mutter und Kind wollen naturgemäß immer, weil sie zusammengehören. Schon hier, in diesem Schweinestall, der langsam verfällt, hat Erika ein eigenes Reich, wo sie schaltet und verwaltet wird. Es ist nur ein provisorisches Reich, denn die Mutter hat jederzeit freien Zutritt. Die Tür von Erikas Zimmer hat kein Schloß, and kein Kind hat Geheimnisse.

/—/

Erika räumt Dinge von einem Ende des Raumes in das andere und gleich wieder zurück; sie blickt mit Betonung auf die Uhr und gibt ein unsichtbares Signal von ihrem hohen Mast, anzeigend, wie müde sie ist nach ihrem harten Arbeitstag, an dem Kunst dilettantisch mißbraucht wurde, um Elternehrgeiz zu befriedigen.

Klemmer steht da und schaut sie an.

Erika will kein Schweigen entstehen lassen und sagt eine Alltäglichkeit. Kunst ist für Erika Alltag, weil sie sich von der Kunst ernähren läßt. Um wieviel leichter ist es dem Künstler, spricht die Frau, Gefühl oder Leidenschaft aus sich hervorzuschleudern. Die Wendung zum Dramatischen, die Sie so schätzen, Klemmer, bedeutet doch, daß der Künstler zu Scheinmitteln greift, die echten Mittel vernachlässigend. Sie spricht, damit kein Schweigen ausbricht. Ich als Lehrerin bin für die undramatische Kunst, Schumann zum Beispiel, das Drama ist immer leichter! Gefühle und Leidenschaften sind immer nur Ersatz, Surrogat für das Durchgeistigte. Nach einem Erdbeben, einem brüllenden Tosen, in wütendem Sturm über sie herfallend, sehnt sich die Lehrerin. Der wilde Klemmer bohrt seinen Kopf vor Zorn fast in das Gemäuer hinein, die Klarinettenklasse daneben, die et neuerdings als Zweitinstrument-Inhaber zweimal in der Woche frequentiert, wäre gewiß erstaunt, tauchte auf einmal der erboste Klemmerkopf neben Beethovens Sterbemaske aus der Wand heraus. Diese Erika, diese Erika fühlt nicht, daß er in Wahrheit nur von ihr redet, und natürlich von sich selbst! Er bringt sich und Erika in einen sinnlichen Zusammenhang und verdrängt damit den Geist, diesen Feind der Sinne, diesen Urfeind des Fleisches. Sie glaubt, et meint Schubert, dabei meint er nur sich, wie er immer nur sich zu meinen pflegt, wenn er spricht.

Er entbietet Erika plötzlich das Duwort, sie rät ihm, bleiben Sie doch sachlich. Ihr Mund verzieht sich ohne ihr Wollen und Zutun zu einer runzligen Rosette, sie hat ihn nicht mehr in der Gewalt. Was er sagt, dieser Mund, hat sie zwar in der Gewalt, nicht aber wie er sich nach außen hin präsentiert. Sie bekommt eine Gänsehaut übergezogen, überall.

Klemmer erschrickt vor sich selbst, er suhlt sich wohlig grunzend in der warmgefüllten Wanne seiner Gedanken und Worte. Auf das Klavier wirft er sich, wobei er sich gefällt. Er spielt in stark überhöhtem Tempo eine längere Phrase vor, die er zufällig auswendig gelernt hat. Demonstrieren will er etwas an der Phrase, es fragt sich, was. Erika Kohut ist der leisen Ablenkung froh, sie wirft sich dem Schüler entgegen, um den D-Zug aufzuhalten, ehe er noch völlig in Fahrt übergegangen ist. Sie spielen das viel zu rasch und auch zu laut, Herr Klemmer, und beweisen damit nur, was das Fehlen jeglichen Geistes in der Interpretation für Lücken zu reißen imstande ist.

Der Mann katapultiert sich rücklings in einen Sessel hinein. Unter Hochdampf steht er wie ein Rennpferd, das schon viele Siege heimgebracht hat. Er fordert, um für Siege entschädigt zu werden und Niederlagen vorzubeugen, kostbare Behandlung und sorgsamste Pflege, mindestens wie ein zwölfteiliges Silber-service.

Erika will nach Hause. Erika will nach Hause. Erika will nach Hause. Sie gibt einen guten Rat: gehen Sie in Wien einfach herum und atmen Sie tief ein. Anschließend spielen Sie Schubert, diesmal aber richtig!

Auszug von Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin
Copyright © 1983 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
ISBN 3 499 15812 4

Die Extrakte werden von Die Schwedische Akademie, gewählt.

To cite this section
MLA style: Elfriede Jelinek – Prose. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Tue. 19 Mar 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/jelinek/25220-elfriede-jelinek-prose-2004/>

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