Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2002 – Pressemitteilung

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Der ständige Sekretär

Pressemitteilung
10. Oktober 2002

Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2002

Imre Kertész

Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2002 wird an den ungarischen Schriftsteller Imre Kertész verliehen

„für ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet“

Imre Kertész’ literarisches Werk erforscht die Möglichkeit, noch als Einzelner in einem Zeitalter zu leben und zu denken, in dem die Menschen sich immer vollständiger staatlicher Macht untergeordnet haben. Sein Werk kehrt unablässig zu dem entscheidenden Ereignis in seinem Leben zurück: dem Aufenthalt in Auschwitz, wohin er, als junger Mann, während der Verfolgung der ungarischen Juden durch die Nazis verschleppt wurde. Auschwitz ist für ihn keine Ausnahmeerscheinung, die sich gleich einem fremden Körper ausserhalb der normalen Geschichte des Abendlandes befinden sollte. Es ist die letzte Wahrheit über die Degradierung des Menschen im modernen Dasein.

Kertész’ erster Roman Sorstalanság, 1975 (Mensch ohne Schicksal, 1990; Roman eines Schicksallosen, 1996), handelt von dem jungen Köves, der festgenommen und in ein Konzentrationslager verschleppt wird, sich aber anpaßt und überlebt. Das Buch bedient sich des verfremdenden Kunstgriffs, die Wirklichkeit der Lager als völlig selbstverständlich anzusehen, ein Alltag gleich allen anderen, zwar unter unerfreulichen Bedingungen, aber nicht ohne Stunden des Glücks. Köves betrachtet die Ereignisse wie ein Kind, ohne sie völlig zu verstehen und ohne sie unnatürlich oder empörend zu finden – er hat nicht unser Fazit. Vielleicht erhält die Schilderung ihre schockartige Glaubwürdigkeit gerade dadurch, daß ihr der Zug moralischer Entrüstung oder metaphysischen Protestes mangelt, nach dem das Thema ruft. Der Leser wird nicht nur mit der Grausamkeit der Willkürakte konfrontiert, sondern ebenso sehr mit dem Ausmaß an Gedankenlosigkeit, die ihre Durchführung kennzeichnete. Henker wie Opfer waren mit sich aufdrängenden praktischen Problemen beschäftigt, die großen Fragen existierten nicht. Kertész’ Botschaft verkündet Leben ist Anpassung. Die Fähigkeit des Gefangenen, sich in Auschwitz zurechtzufinden, ist ein Ergebnis desselben Prinzips, das im Alltag und im menschlichen Zusammenleben zum Ausdruck kommt.

Mit dieser Art des Denkens schließt sich der Schriftsteller einer geistigen Tradition an, für die Leben und Geist im Gegensatz zueinander stehen. In Kaddis a meg nem született gyermekért, 1990 (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1992), vermittelt Kertész ein durch und durch negatives Bild der Kindheit und leitet aus dieser Vorgeschichte das paradoxe Gefühl, sich im Konzentrationslager heimisch zu fühlen, her. Er vollendet seine unerbittliche existenzielle Analyse dadurch, daß er die Liebe als die höchste Stufe der Anpassung darstellt, als die totale Kapitulation vor dem Willen, um jeden Preis zu existieren. Für Kertész liegt das Geistige des Menschen in seiner Untauglichkeit zu leben. Die Erfahrung des Einzelnen erweist sich als unbrauchbar, sobald man sie vor dem Hintergrund der Bedürfnisse und der Interessen des menschlichen Kollektivs betrachtet.

In der Fragmentsammlung Gálayanapló, 1992 (Galeerentagebuch, 1993), stellt Kertész seine intellektuelle Weite unter Beweis. “Theoretische Motivierungen sind nur Konstruktionen”, schreibt er, führt aber dennoch einen unermüdlichen Dialog mit der großen kulturkritischen Tradition – mit Pascal, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Kafka, Camus, Beckett, Bernhard. Seinem Wesen nach ist Imre Kertész eine Minderheit, die aus einer Person besteht. Er betrachtet seine Zugehörigkeit zum Begriff Jude als eine Definition, die vom Feind aufgezwungen wurde. Aber durch ihre Konsequenzen ist diese willkürliche Kategorisierung gleichwohl seine Initiation in die tiefste Kenntnis über Mensch und Gegenwart.

Die Romane, die auf Sorstalanság, 1975 (Mensch ohne Schicksal, 1990; Roman eines Schicksallosen, 1996), folgten, A kudarc, 1988 (Fiasko, 2000), und Kaddis a meg nem születt gyermekért, 1990 (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1992), haben am ehesten den Charakter von Kommentaren und Zusätzen zum ersten und entscheidenden Buch. Diese Tatsache ist das Thema von A kudarc. Während er auf eine als selbstverständlich vorausgesetzte Ablehnung seines eigentlichen Romans, den über Auschwitz, wartet, vertreibt ein alternder Schriftsteller seine Tage damit, einen Gegenwartsroman im Stil Kafkas zu schreiben, eine klaustrophobische Schilderung des sozialistischen Osteuropa. Am Ende erreicht ihn die Mitteilung, daß das vorige Buch trotz allem erscheinen soll, aber in dem Augenblick empfindet er lediglich Leere. Ausgestellt auf dem literarischen Markt verwandelt sich seine Person in einen Gegenstand, seine Geheimnisse werden banalisiert.

Die Unerbittlichkeit der Haltung Kertész’ ist in seinem Stil deutlich zu vernehmen, der an eine gutgewachsene Hagedornhecke erinnert, dicht und dornig gegenüber ahnungslosen Besuchern. Aber er befreit den Leser von der Bürde obligatorischer Gefühle und verlockt ihn zu einer seltsamen Gedankenfreiheit.

Die Schwedische Akademie

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MLA style: Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2002 – Pressemitteilung. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Fri. 29 Mar 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2002/8083-imre-kertesz-2002-2/>

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