Herta Müller – Nobelvorlesung
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7. Dezember 2009
Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis
HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, daß die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit. Eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht. Die Liebe hat sich als Frage verkleidet. Nur so ließ sie sich trocken sagen, im Befehlston wie die Handgriffe der Arbeit. Daß die Stimme schroff war, unterstrich sogar die Zärtlichkeit. Jeden Morgen war ich ein Mal ohne Taschentuch am Tor und ein zweites Mal mit einem Taschentuch. Erst dann ging ich auf die Straße, als wäre mit dem Taschentuch auch die Mutter dabei.
Und zwanzig Jahre später war ich längst für mich allein in der Stadt, Übersetzerin in einer Maschinenbau-Fabrik. Fünf Uhr morgens stand ich auf, halb sieben Uhr fing die Arbeit an. Morgens schallte aus dem Lautsprecher die Hymne über den Fabrikhof. In der Mittagspause die Arbeiterchöre. Aber die Arbeiter, die beim Essen saßen, hatten leere Augen wie Weißblech, ölverschmierte Hände, ihr Essen war in Zeitungspapier gewickelt. Bevor sie ihr Stückchen Speck aßen, kratzten sie mit dem Messer die Druckerschwärze von ihrem Speck. Zwei Jahre vergingen im Trott der Alltäglichkeit, ein Tag glich dem anderen.
Im dritten Jahr war es mit der Gleichheit der Tage vorbei. Innerhalb einer Woche kam dreimal frühmorgens ein riesengroßer dickknochiger Mann mit funkelnd blauen Augen, ein Koloß vom Geheimdienst in mein Büro.
Das erste Mal beschimpfte er mich im Stehen und ging.
Das zweite Mal zog er seine Windjacke aus, hängte sie an den Schrankschlüssel und setzte sich. Ich hatte an diesem Morgen von zu Hause Tulpen mitgebracht und arrangierte sie in der Vase. Er schaute mir zu und lobte mich für meine ungewöhnliche Menschenkenntnis. Seine Stimme war glitschig. Es war mir nicht geheuer. Ich bestritt das Lob und versicherte, daß ich mich in Tulpen auskenne, aber nicht in Menschen. Da sagte er maliziös, daß er mich besser kenne, als ich die Tulpen. Dann hängte er sich die Windjacke auf den Arm und ging.
Das dritte Mal setzte er sich und ich blieb stehen, denn er hatte seine Aktentasche auf meinen Stuhl gelegt. Ich wagte es nicht, sie auf den Boden zu stellen. Er beschimpfte mich als stockdumm, arbeitsfaul, als Flittchen, so verdorben wie eine streunende Hündin. Die Tulpen schob er knapp an den Tischrand, auf die Tischmitte legte er ein leeres Blatt Papier und einen Stift. Er brüllte: Schreiben. Ich schrieb im Stehen, was er mir diktierte – meinen Namen mit Geburtsdatum und Adresse. Dann aber, daß ich unabhängig von Nähe oder Verwandtschaft niemandem sage, daß ich … jetzt kam das schreckliche Wort: colaborez, daß ich kollaboriere. Dieses Wort schrieb ich nicht mehr. Ich legte den Stift hin und ging zum Fenster, sah auf die staubige Straße hinaus. Sie war nicht asphaltiert, Schlaglöcher und bucklige Häuser. Diese ruinierte Gasse hieß auch noch Strada Gloriei, Straße des Ruhms. Auf der Straße des Ruhms saß eine Katze im nackten Maulbeerbaum. Es war die Fabrikskatze mit dem zerrissenen Ohr. Über ihr eine frühe Sonne wie eine gelbe Trommel. Ich sagte: N-am caracterul, ich hab nicht diesen Charakter. Ich sagte es der Straße draußen. Das Wort CHARAKTER machte den Geheimdienstmann hysterisch. Er zerriß das Blatt und warf die Schnipsel auf den Boden. Wahrscheinlich fiel ihm ein, daß er seinem Chef den Anwerbungsversuch präsentieren muß, denn er bückte sich, sammelte alle Fetzen in die Hand und warf sie in seine Aktentasche. Dann seufzte er tief und warf in seiner Niederlage die Blumenvase mit den Tulpen an die Wand. Sie zerschellte und es knirschte, als wären Zähne in der Luft. Mit der Aktentasche unterm Arm sagte er leis: Dir wird es noch leidtun, wir ersäufen dich im Fluß. Ich sagte wie zu mir selbst: Wenn ich das unterschreibe, kann ich nicht mehr mit mir leben, dann muß ich es selber tun. Besser Sie machen es. Da stand hier die Bürotür schon offen und er war weg. Und draußen auf der Strada Gloriei war die Fabrikskatze vom Baum aufs Hausdach gesprungen. Ein Ast federte wie ein Trampolin.
Am nächsten Tag fing das Gezerre an. Ich sollte aus der Fabrik verschwinden. Jeden Morgen halb sieben mußte ich mich beim Direktor präsentieren. Mit ihm saßen jeden Morgen der Chef der Gewerkschaft und der Parteisekretär. Wie seinerzeit die Mutter fragte: Hast du ein Taschentuch, fragte jetzt der Direktor jeden Morgen: Hast du eine andere Arbeit gefunden. Ich antwortete jedes Mal dasselbe: Ich suche keine, mir gefällt es hier in der Fabrik, ich möchte bis zur Rente bleiben.
Eines Morgens kam ich zur Arbeit und meine dicken Wörterbücher lagen im Gang auf dem Boden neben der Bürotür. Ich öffnete, an meinem Schreibtisch saß ein Ingenieur. Er sagte: Hier klopft man an, wenn man hereinkommt. Hier sitze ich, du hast hier nichts zu suchen. Nach Hause gehen konnte ich nicht, sonst hätte man einen Vorwand gehabt, mich wegen unentschuldigtem Fehlen entlassen können. Ich hatte kein Büro, mußte jetzt erst recht jeden Tag normal zur Arbeit kommen, durfte auf keinen Fall fehlen.
Meine Freundin, der ich jeden Tag auf dem Heimweg durch die elendige Strada Gloriei alles erzählte, machte mir die erste Zeit eine Ecke an ihrem Schreibtisch frei. Doch eines Morgens stand sie vor der Bürotür und sagte: Ich darf dich nicht hereinlassen. Alle sagen, du bist ein Spitzel. Die Schikanen wurden nach unten gereicht, das Gerücht unter den Kollegen in Umlauf gesetzt. Das war das Schlimmste. Gegen Angriffe kann man sich wehren, gegen Verleumdung ist man machtlos. Ich rechnete jeden Tag mit allem, auch mit dem Tod. Aber mit dieser Perfidie wurde ich nicht fertig. Keine Rechnung machte sie erträglich. Verleumdung stopft einen aus mit Dreck, man erstickt, weil man sich nicht wehren kann. In der Meinung der Kollegen war ich genau das, was ich verweigert hatte. Wenn ich sie bespitzelt hätte, hätten sie mir ahnungslos vertraut. Im Grunde bestraften sie mich, weil ich sie schonte.
Da ich jetzt erst recht nicht fehlen durfte, aber kein Büro hatte, und meine Freundin mich in ihres nicht mehr lassen durfte, stand ich unschlüssig im Treppenhaus. Ich ging die Treppen ein paarmal auf und ab – plötzlich war ich wieder das Kind meiner Mutter, denn ICH HATTE EIN TASCHENTUCH. Ich legte es zwischen der ersten und zweiten Etage auf eine Treppenstufe, strich es glatt, daß es ordentlich liegt, und setzte mich drauf. Meine dicken Wörterbücher legte ich aufs Knie und übersetzte die Beschreibungen von hydraulischen Maschinen. Ich war ein Treppenwitz und mein Büro ein Taschentuch. Meine Freundin setzte sich in den Mittagspausen auf die Treppe zu mir. Wir aßen zusammen wie früher in ihrem und noch früher in meinem Büro. Aus dem Hoflautsprecher sangen wie immer die Arbeiterchöre vom Glück des Volkes. Sie aß und weinte um mich. Ich nicht. Ich mußte hart bleiben. Noch lange. Ein paar ewige Wochen, bis ich entlassen wurde.
In der Zeit, als ich ein Treppenwitz war, habe ich im Lexikon nachgeblättert, was es mit dem Wort TREPPE auf sich hat: Die erste Stufe der Treppe heißt ANTRITT, die letzte Stufe AUSTRITT. Die waagerechten Stufen zum Drauftreten sind seitlich in die TREPPENWANGEN eingepasst. Und die Freiräume zwischen den einzelnen Stufen heißen sogar TREPPENAUGEN. Von den Bauteilen der hydraulischen, ölverschmierten Maschinen kannte ich die schönen Wörter: SCHWALBENSCHWANZ, SCHWANENHALS, der Halt der Schrauben hieß SCHRAUBENMUTTER. Und genauso verblüfften mich die poetischen Namen der Treppenteile, die Schönheit der technischen Sprache. TREPPENWANGEN, TREPPENAUGEN – also hat die Treppe ein Gesicht. Ob aus Holz oder Stein, Beton oder Eisen – wieso bauen die Menschen selbst in die sperrigsten Dinge der Welt ihr eigenes Antlitz hinein, geben totem Material die Namen vom eigenen Fleisch, personifizieren es zu Körperteilen. Wird den Spezialisten der Technik die schroffe Arbeit erst erträglich durch versteckte Zärtlichkeit. Läuft jede Arbeit, in jedem Beruf, nach demselben Prinzip wie die Frage meiner Mutter nach dem Taschentuch.
Es gab zu Hause in meiner Kindheit eine Taschentuchschublade. Darin lagen in zwei Reihen hintereinander je drei Stapel:
Links die Männertaschentücher für den Vater und Großvater.
Rechts die Frauentaschentücher für die Mutter und Großmutter.
In der Mitte die Kindertaschentücher für mich.
Die Schublade war unser Familienbild im Taschentuchformat. Die Männertaschentücher waren die größten, hatten dunkle Randstreifen in Braun, Grau oder Bordeaux. Die Frauentaschentücher waren kleiner, ihre Ränder hellblau, rot oder grün. Die Kindertaschentücher waren die kleinsten, ohne Rand, aber im weißen Viereck mit Blumen oder Tieren bemalt. Von allen drei Taschentuchsorten gab es Werktagstaschentücher, in der vorderen Reihe, und Sonntagstaschentücher, in der hinteren Reihe. Sonntags mußte das Taschentuch, auch wenn man es nicht sah, zur Farbe der Kleider passen.
Kein anderer Gegenstand im Haus, nicht einmal wir selber, waren uns jemals so wichtig wie das Taschentuch. Es war universell nutzbar für: Schnupfen, Nasebluten, verletzte Hand, Ellbogen oder Knie, Weinen oder Draufbeißen und das Weinen unterdrücken. Ein nasses, kaltes Taschentuch auf der Stirn war gegen Kopfweh. Mit vier Knoten an den Ecken war es eine Kopfbedeckung gegen Sonnenbrand oder Regen. Wenn man sich etwas merken wollte, machte man sich einen Knoten als Gedächtnisstütze ins Taschentuch. Zum Tragen schwerer Taschen wickelte man es um die Hand. Flatternd wurde es ein Abschiedswinken, wenn der Zug aus dem Bahnhof fuhr. Und weil der Zug auf Rumänisch TREN und die Träne im Banater Dialekt TRÄN heißt, glich das Quietschen der Züge auf den Schienen in meinem Kopf immer dem Weinen. Wenn im Dorf einer zu Hause starb, band man ihm sofort ums Kinn herum ein Taschentuch, damit der Mund geschlossen bleibt, wenn die Leichenstarre fertig ist. Wenn am Wegrand in der Stadt einer umfiel, fand sich immer ein Passant, der dem Toten das Gesicht zudeckte mit seinem Taschentuch – so war das Taschentuch seine erste Totenruhe.
An heißen Sommertagen schickten die Eltern ihre Kinder spätabends auf den Friedhof Blumen gießen. Zu zweit oder zu dritt, man blieb von einem Grab zum anderen beisammen, goss schnell. Dann setzten wir uns eng aneinander auf die Treppen der Kapelle und schauten, wie aus manchen Gräbern weiße Dunstfetzen stiegen. Sie flogen ein bißchen in der schwarzen Luft und verschwanden. Für uns waren es die Seelen der Toten: Tiergestalten, Brillen, Fläschchen und Tassen, Handschuhe und Strümpfe. Und dazwischen hier und da ein weißes Taschentuch mit dem schwarzen Rand der Nacht.
Später, als ich mit Oskar Pastior Gespräche führte, um über seine Deportation ins sowjetische Arbeitslager zu schreiben, erzählte er, daß er von einer alten russischen Mutter ein Taschentuch aus weißem Batist bekommen hat. Vielleicht habt ihr Glück du und mein Sohn, und dürft bald nach Hause, sagte die Russin. Ihr Sohn war so alt wie Oskar Pastior und von zu Hause so weit weg wie er, in der anderen Richtung, sagte sie, in einem Strafbataillon. Als halbverhungerter Bettler hat Oskar Pastior an ihre Tür geklopft, wollte einen Brocken Kohle für ein bißchen Essen tauschen. Sie ließ ihn ins Haus, gab ihm heiße Suppe. Und als seine Nase in den Teller tropfte – das weiße Taschentuch aus Batist, das noch nie jemand benutzt hatte. Mit einem Ajour-Rand, akkurat genähten Stäbchen und Rosetten aus Seidenzwirn war das Taschentuch eine Schönheit, die den Bettler umarmte und verletzte. Eine Mixtur, einerseits Trost aus Batist, andererseits ein Meßband mit Seidenstäbchen, den weißen Strichlein auf der Skala seiner Verwahrlosung. Oskar Pastior selbst war eine Mixtur für diese Frau: weltfremder Bettler im Haus und verlorenes Kind in der Welt. In diesen zwei Personen war er beglückt und überfordert von der Geste einer Frau, die für ihn auch zwei Personen war: fremde Russin und besorgte Mutter mit der Frage: HAST DU EIN TASCHENTUCH.
Ich habe, seitdem ich diese Geschichte kenne, auch eine Frage: Ist HAST DU EIN TASCHENTUCH überall gültig und im Schneeglanz zwischen Frieren und Tauen über die halbe Welt gespannt. Geht sie zwischen Bergen und Steppen über alle Grenzen, bis hinein in ein riesiges mit Straf- und Arbeitslagern übersätes Imperium. Ist die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH nicht einmal mit Hammer und Sichel, nicht einmal im Stalinismus der Umerziehung durch die vielen Lager totzukriegen?
Obwohl ich seit Jahrzehnten rumänisch spreche, fiel mir im Gespräch mit Oskar Pastior zum ersten mal auf: Taschentuch heißt auf Rumänisch BATISTA. Wieder mal das sinnliche Rumänisch, das seine Wörter zwingend einfach ins Herz der Dinge jagt. Das Material macht keinen Umweg, bezeichnet sich als fertiges Taschentuch, als BATISTA. Als wäre jedes Taschentuch jederzeit und überall aus Batist.
Oskar Pastior hat das Taschentuch als Reliquie von einer Doppelmutter mit einem Doppelsohn im Koffer aufbewahrt. Und dann nach fünf Lagerjahren mit nach Hause genommen. Warum – sein weißes Taschentuch aus Batist war Hoffnung und Angst. Wenn man Hoffnung und Angst aus der Hand gibt, stirbt man.
Nach dem Gespräch über das weiße Taschentuch klebte ich Oskar Pastior die halbe Nacht eine Collage auf eine weiße Karte:
Hier tanzen Punkte sagt Bea
kommst in ein langstieliges Glas Milch
Wäsche in Weiß graugrüne Zinkwanne
bei Nachnahme entsprechen sich
fast alle Materialien
schau her
ich bin die Zugfahrt und
die Kirsche in der Seifenschale
sprich nie mit fremden Männern und
über die Zentrale
Als ich die Woche darauf zu ihm kam, ihm die Collage schenken wollte, sagte er: Da mußt du noch draufkleben FÜR OSKAR. Ich sagte: Was ich dir gebe, das gehört dir. Du weißt es doch. Er sagte: Du mußt es draufkleben, die Karte weiß es vielleicht nicht. Ich nahm sie wieder mit nach Hause und klebte drauf: Für Oskar. Und schenkte sie ihm die nächste Woche wieder, als wäre ich das erste Mal vom Tor ohne Taschentuch zurückgegangen und jetzt zum zweiten Mal am Tor mit einem Taschentuch.
Mit einem Taschentuch endet auch eine andere Geschichte:
Der Sohn meiner Großeltern hieß Matz. In den 30er Jahren wurde er zur Kaufmannslehre nach Temeswar geschickt, um den Getreidehandel und Kolonialwarenladen der Familie zu übernehmen. An der Schule unterrichteten Lehrer aus dem Deutschen Reich, richtige Nazis. Der Matz war nach der Lehre vielleicht nebenbei auch zum Kaufmann, aber hauptsächlich zum Nazi ausgebildet – Gehirnwäsche nach Plan. Der Matz war nach der Lehre ein glühender Nazi, ein Ausgewechselter. Er bellte antisemitische Parolen, war unerreichbar wie ein Debiler. Mein Großvater hat ihn mehrmals zurechtgewiesen: Er habe sein ganzes Vermögen nur durch Kredite von jüdischen Geschäftsfreunden. Und als das nichts half, hat er ihn mehrmals geohrfeigt. Doch sein Verstand war getilgt. Er spielte den Dorfideologen, drangsalierte Gleichaltrige, die sich vor der Front drückten. Er hatte bei der rumänischen Armee einen Schreibtischposten. Aber aus der Theorie drängte es ihn in die Praxis, er meldete sich freiwillig zur SS, wollte an die Front. Ein paar Monate später kam er nach Hause, um zu heiraten. Von den Verbrechen an der Front belehrt, nutzte er eine gültige Zauberformel, um dem Krieg für ein paar Tage zu entkommen. Diese Zauberformel hieß: Heiratsurlaub.
Meine Großmutter hatte zwei Fotos von ihrem Sohn Matz ganz hinten in einer Schublade, ein Hochzeitsfoto und ein Todesfoto. Auf dem Hochzeitsbild steht eine Braut in Weiß, eine Hand größer als er, dünn und ernst, eine Gipsmadonna. Auf ihrem Kopf ein Wachskranz wie eingeschneites Laub. Neben ihr der Matz in der Naziuniform. Statt ein Bräutigam zu sein, ist er ein Soldat. Ein Heiratssoldat und sein eigener letzter Heimatsoldat. Kaum zurück an der Front, kam das Todesfoto. Darauf ist ein allerletzter, von einer Mine zerfetzter Soldat. Das Todesfoto ist handgroß, ein schwarzer Acker, mittendrauf ein weißes Tuch mit einem grauen Häuflein Mensch. Im Schwarzen liegt das weiße Tuch so klein wie ein Kindertaschentuch, dessen weißes Viereck in der Mitte mit einer bizarren Zeichnung bemalt ist. Für meine Großmutter hatte auch dieses Foto seine Mixtur: auf dem weißen Taschentuch war ein toter Nazi, in ihrem Gedächtnis ein lebender Sohn. Meine Großmutter hatte dieses Doppelbild alle Jahre in ihrem Gebetbuch liegen. Sie betete jeden Tag. Wahrscheinlich waren auch ihre Gebete doppelbödig. Wahrscheinlich folgten sie dem Riß vom geliebten Sohn zum besessenen Nazi und erbaten auch vom Herrgott den Spagat, diesen Sohn zu lieben und dem Nazi zu vergeben.
Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg Soldat. Er wußte, wovon er spricht, wenn er in Bezug auf seinen Sohn Matz oft und verbittert sagte: Ja, wenn die Fahnen flattern, rutscht der Verstand in die Trompete. Diese Warnung paßte auch auf die folgende Diktatur, in der ich selber lebte. Täglich sah man den Verstand der kleinen und großen Profiteure in die Trompete rutschen. Ich beschloß, die Trompete nicht zu blasen.
Aber als Kind mußte ich gegen meinen Willen Akkordeon spielen lernen. Denn im Haus stand das rote Akkordeon des toten Soldaten Matz. Die Riemen des Akkordeons waren viel zu lang für mich. Damit sie nicht von der Schulter rutschen, band der Akkordeonlehrer sie mir auf dem Rücken mit einem Taschentuch zusammen.
Kann man sagen, daß gerade die kleinsten Gegenstände, und seien es Trompete, Akkordeon oder Taschentuch, das Disparateste im Leben zusammenbinden. Daß die Gegenstände kreisen und in ihren Abweichungen etwas haben, das den Wiederholungen gehorcht – dem Teufelskreis. Man kann es glauben, aber nicht sagen. Aber was man nicht sagen kann, kann man schreiben. Weil das Schreiben ein stummes Tun ist, eine Arbeit vom Kopf in die Hand. Der Mund wird übergangen. Ich habe in der Diktatur viel geredet, meistens weil ich mich entschlossen hatte, die Trompete nicht zu blasen. Meistens hat das Reden unerträgliche Folgen gehabt. Aber das Schreiben hat im Schweigen begonnen, dort auf der Fabriktreppe, wo ich mit mir selbst mehr ausmachen mußte, als man sagen konnte. Das Geschehen war im Reden nicht mehr zu artikulieren. Höchstens die äußeren Hinzufügungen, aber nicht deren Ausmaß. Dieses konnte ich nur noch stumm im Kopf buchstabieren, im Teufelskreis der Wörter beim Schreiben. Ich reagierte auf die Todesangst mit Lebenshunger. Der war ein Worthunger. Nur der Wortwirbel konnte meinen Zustand fassen. Er buchstabierte, was sich mit dem Mund nicht sagen ließ. Ich lief dem Gelebten im Teufelskreis der Wörter hinterher, bis etwas so auftauchte, wie ich es vorher nicht kannte. Parallel zur Wirklichkeit trat die Pantomime der Wörter in Aktion. Sie respektiert keine realen Dimensionen, schrumpft die Hauptsachen und dehnt die Nebensachen. Der Teufelskreis der Wörter bringt dem Gelebten Hals über Kopf eine Art verwunschene Logik bei. Die Pantomime ist rabiat und bleibt ängstlich, und genauso süchtig wie überdrüssig. Das Thema Diktatur ist von sich aus dabei, weil Selbstverständlichkeit nie mehr wiederkehrt, wenn sie einem fast komplett geraubt worden ist. Das Thema ist implizit da, aber in Besitz nehmen mich die Wörter. Sie locken das Thema hin, wo sie wollen. Nichts mehr stimmt und alles ist wahr.
Als Treppenwitz war ich so einsam wie damals als Kind im Flußtal beim Kühehüten. Ich aß Blätter und Blüten, damit ich zu ihnen gehöre, denn sie wußten, wie man lebt und ich nicht. Ich redete sie mit ihren Namen an. Der Name Milchdistel sollte wirklich die stachelige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber auf den Namen Milchdistel hörte die Pflanze nicht. Ich versuchte es mit erfundenen Namen: STACHELRIPPE, NADELHALS, in denen weder Milch noch Distel vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf. Die Blamage, mit mir allein laut zu reden und nicht mit der Pflanze. Aber die Blamage tat mir gut. Ich hütete Kühe und der Wortklang behütete mich. Ich spürte:
Jedes Wort im Gesicht
weiß etwas vom Teufelskreis
und sagt es nicht
Der Wortklang weiß, daß er betrügen muß, weil die Gegenstände mit ihrem Material betrügen, die Gefühle mit ihren Gesten. An der Schnittstelle, wo der Betrug der Materialien und der Gesten zusammenkommen, nistet sich der Wortklang mit seiner erfundenen Wahrheit ein. Beim Schreiben kann von Vertrauen keine Rede sein, eher von der Redlichkeit des Betrugs.
Damals in der Fabrik, als ich ein Treppenwitz und das Taschentuch mein Büro war, habe ich im Lexikon auch das schöne Wort TREPPENZINS gefunden. Es bedeutet in Stufen ansteigende Zinssätze einer Anleihe. Die ansteigenden Zinssätze sind für den Einen Kosten, für den Anderen Einnahmen. Beim Schreiben werden sie beides, je mehr ich mich im Text vertiefe. Je mehr das Geschriebene mich ausraubt, desto mehr zeigt es dem Gelebten, was es im Erleben nicht gab. Nur die Wörter entdecken es, weil sie es vorher nicht wußten. Wo sie das Gelebte überraschen, spiegeln sie es am besten. Sie werden so zwingend, daß sich das Gelebte an sie klammern muß, damit es nicht zerfällt.
Mir scheint, die Gegenstände kennen ihr Material nicht, die Gesten kennen nicht ihre Gefühle und die Wörter nicht den Mund, der spricht. Aber um uns der eigenen Existenz zu versichern, brauchen wir die Gegenstände, die Gesten und die Wörter. Je mehr Wörter wir uns nehmen dürfen, desto freier sind wir doch. Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeitlang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeitlang unverdächtig bleibt.
Kurz vor meiner Emigration aus Rumänien wurde meine Mutter frühmorgens vom Dorfpolizisten abgeholt. Sie war schon am Tor, als ihr einfiel, HAST DU EIN TASCHENTUCH. Sie hatte keines. Obwohl der Polizist ungeduldig war, ging sie noch mal ins Haus zurück und nahm sich ein Taschentuch. Auf der Wache tobte der Polizist. Das Rumänisch meiner Mutter reichte nicht, um sein Geschrei zu verstehen. Dann verließ er das Büro und schloß die Tür von außen ab. Den ganzen Tag saß meine Mutter eingesperrt da. Die ersten Stunden saß sie an seinem Tisch und weinte. Dann ging sie auf und ab und begann mit dem tränennassen Taschentuch den Staub von den Möbeln zu wischen. Dann nahm sie den Wassereimer aus der Ecke und das Handtuch vom Nagel an der Wand und wischte den Boden. Ich war entsetzt, als sie mir das erzählte. Wie kannst Du dem das Büro putzen, fragte ich. Sie sagte, ohne sich zu genieren, ich habe mir Arbeit gesucht, daß die Zeit vergeht. Und das Büro war so dreckig. Gut, daß ich mir eins von den großen Männertaschentüchern mitgenommen hatte.
Erst jetzt verstand ich, durch zusätzliche, aber freiwillige Erniedrigung verschaffte sie sich Würde in diesem Arrest. In einer Collage habe ich Wörter dafür gesucht:
Ich dachte an die stramme Rose im Herzen
an die nutzlose Seele wie ein Sieb
der Inhaber fragte aber:
wer gewinnt die Oberhand
ich sagte: die Rettung der Haut
er schrie: die Haut ist
nur ein Fleck beleidigter Batist
ohne Verstand
Ich wünsche mir, ich könnte einen Satz sagen, für alle, denen man in Diktaturen alle Tage, bis heute, die Würde nimmt – und sei es ein Satz mit dem Wort Taschentuch. Und sei es die Frage: HABT IHR EIN TASCHENTUCH.
Kann es sein, daß die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen.
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